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Die Brüder, die ich nie hatte

Maurits und Izaak de Leeuw, Zwischenbilanz einer Suche

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In Memoriam
Abraham de Leeuw, 1885 – 1944
Izaak de Leeuw, 1921 – 1945
Maurits de Leeuw, 1918 – 1945
Zelma de Leeuw-ten Brink, 1896 – 1944

Geschreven op verzoek van het archief van de K-Z Gedenkstätte Dachau

´Rijkeluiswens´, Reichenwunsch, so wurde es damals in unserer Familie genannt. Zwei Kinder: das erste Kind ein Junge, das zweite ein Mädchen. Ich war 1947 der Erste, meine Schwester folgte 1950. Und dabei blieb es. Einen, oder gar zwei Brüder, hatte ich nie. Damals, in meiner Jugend, habe ich es nicht vermisst. Klar ist, dass mein Leben anders gewesen wäre, wenn ich Brüder gehabt hätte. Wie anders, dass ist schwer zu sagen.

Und plötzlich fühlt es sich an, als hätte ich zwei Brüder, Maurits und Izaak. Als ich im vergangenen halben Jahr auf mehrere Bilder stieß, wurden sie mir vertraut, sympathisch, ja fast brüderlich..... Familienmitglieder die ich ja so gern gehabt hätte. Maurits wurde 1918 geboren. Er steht immer rechts auf den Bildern, ein etwas schmales Gesicht. Izaak, Jahrgang 1921, steht immer links auf den Bildern, ein rundlicher Kopf. Das erste Bild scheint nicht in einem Fotostudio, sondern zu Hause, gemacht worden zu sein. Die beiden Jungen sitzen locker und spontan auf einem Esstisch. Erstaunlich ist die Qualität der Fotografie. Gab es 1922-23 schon Fotoapparate in Privatbesitz, mit denen man so gute Fotos machen konnte? Wurde der professionelle Fotograf vielleicht ins Haus bestellt? Oder gab es vielleicht einen Fotografen in der Familie? Aber die waren doch fast alle Metzger und Viehhändler!

Das zweite Bild, vielleicht zwei, drei Jahre später aufgenommen, zeigt die beiden Jungen unverkennbar in einem Studio. Vom dritten Foto, wieder einige Jahre später entstanden, ist schwer zu sagen, ob es in einem Park oder in einem raffiniert dekoriertem Studio gemacht wurde. Die Brüder jedenfalls sehen gut aus: gesund, lebendig und voller Erwartung in die weite Welt blickend. Gediegene Kleidung: Handschuhe, Mützen und Stiefel zeugen von kräftiger, rustikaler Art.

Und das vierte und letzte Bild, es muss Frühjahr 1942 sein, zu der Zeit feiern die Eltern ihre Silberhochzeit. Am 6. Juni 1917 hatten die Eltern in Denekamp geheiratet. Die Blumenpracht im Frühjahr ´42 ist nur schwer erklärbar. Holland war zu dieser Zeit doch schon zwei Jahre von den Deutschen besetzt und das Unheil stand unmittelbar vor der Tür. Trotzdem, die Brüder stehen stolz hinter ihren Eltern! Gepflegter Anzug mit Krawatte! Einer – ist es nun doch Mauritz der links steht? - trägt inzwischen eine Brille. Maurits ist nun 24 Jahre alt, Izaak fast 21. Drei Jahre später liegen sie in den Massengräbern der Dachauer Außenlager Kaufering und Landshut.

Diese kleine Sammlung von vier Bildern ist alles, was von Maurits und Izaak übrig geblieben ist. Bis vor Kurzem verbrachten sie Jahrzehnte in Dunkelheit, in unterschiedlichen Schachteln und Schubladen. Keiner kümmerte sich um sie. Die ganze Familie, Vater Abraham (Bram), Mutter Zelma und ihre zwei Söhne waren völlig vergessen. Ausradiert von den Nazis, so wie fast die gesamte übrige Großfamilie. Auch die Menschen, die normalerweise die Erinnerung an sie hätten lebendig halten können, waren getötet worden. Nach ´45 gab es niemanden mehr, der von ihnen erzählen konnte.

Den Brüdern und ihren Eltern das Leben zurückzugeben ist unmöglich. Aber die Erinnerung an sie wiederherzustellen, dass kann auch jetzt nach über 66 Jahren noch geschehen. Während ich diese Worte auf mein Laptop tippe, bin ich mir über eines im Klaren: Dies sind die ersten Worte die über Bram, Zelma, Maurits und Isaak geschrieben werden. Und die Technik des 21. Jahrhunderts ermöglicht es mir, die vier Bilder aus dem Dunkeln herauszuholen und im Internet der ganzen Welt zu zeigen. Die von den Nazis gewollte Ausradierung dieser vier Menschen ist nicht gelungen. Wir haben die Familie mit unserer Erinnerung zurückgeholt.

Maurits und Izaak wurden in Enschede, einer größeren Textilstadt, unweit der niederländisch-deutschen Grenze, geboren. Die Stadt zählte 1941 ca. 1400 Juden. Dies waren 1,5 % der Gesamtbevölkerung. 70 % der Juden hatten die niederländische Staatsangehörigkeit, 30 % eine andere, zumeist die deutsche – dazu gehörten meine Großeltern Adolf und Julia Löwenhardt, die 1936 aus Dortmund geflüchtet waren. Meine Großmutter Julia Löwenhardt geb. ten Brink war eine Schwester Zelmas. Es besteht kein Zweifel, dass die beiden Familien sich in der Zeit von 1936 – 1942 in Enschede oft trafen. Dies war nicht die einzige Verwandtschaftsbeziehung der beiden Familien. Zelmas Ehemann Bram war ein Neffe des Vaters meiner Mutter, Arnold de Leeuw. Eine Doppelverwandtschaft verbindet mich also mit den Brüdern Maurits und Izaak de Leeuw.

Die Stadt kannte eine reiche, jüdische Oberschicht. Von allen Enscheder Textilfabriken hatten 14 jüdische Inhaber: fünf Webereien, zwei Fabriken für Moltondecken, sechs Textilabfallfabriken und die größte der Textilfabriken der Stadt, N. J. Menko. Schon am 2. April 1933 hatte der Oberdirektor Sigmund (Sig) Menko den Anstoß gegeben, das ´Komitee für Deutsche Flüchtlinge´zu gründen, dessen Vorsitzender er wurde. Seine Bedeutung als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde und seine Mitarbeit im ´Judenrat´ während der Deutschen Besatzung, war unübertroffen. Menko widersetzte sich aktiv der Politik des Amsterdamer Judenrates. Der Judenrat hatte versucht Juden davon abzuhalten unterzutauchen, d. h. sich der Deportation ´nach Osten´ zu entziehen. Gemeinsam mit der Organisation des reformierten Pastors Leendert Overduin hat er vielen Familien geholfen Unterschlupf zu finden und zu überleben. Dank Sig Menko, Leendert Overduin, ihrer Kollegen und Mitstreiter (und der vielen Familien die jüdischen Mitbürgern und Flüchtlingen ein sicheres Versteck boten) haben mehr als die Hälfte der 1400 Enscheder Juden den Holocaust überlebt. In den Niederlande insgesamt (mehr als die Hälfte lebte in Amsterdam) hat lediglich ein Viertel der Juden die Verfolgung überlebt.

Unterhalb der Oberschicht gab es einen ziemlich ausgeprägten jüdischen Mittelstand. Die Großfamilie De Leeuw („der Löwe“) hatte hier einen besonderen Stellenwert. Im Sommer 1940 legte die Gemeinde Enschede auf Anweisung der Deutschen Behörden eine Liste mit allen jüdischen Unternehmen an, von kleinen Läden bis zum Textilgiganten. Auf der Liste stehen 14 Firmen mit dem Namen de Leeuw. Nicht weniger als elf waren Metzgereien, Abrahm de Leeuw war einer von diesen.

Statistisch betrachtet hatten meine Enscheder Verwandten, meine Großeltern und die Familie Bram de Leeuw, gute Chancen zu überleben. Tatsächlich sind Bram, Selma und Söhne untergetaucht, wurden aber entdeckt. Die Ironie der Geschichte: 66 Jahre später ist es einfacher zu erfahren wie sie gestorben sind, als herauszufinden wie sie gelebt haben. Der Genozid ist gut dokumentiert. In zahlreichen Gedenkstätten und Dokumentationszentren trifft man auf hilfreiche Archivare. Themen und Einzelgeschichten sind berufsmäßig beschrieben. Aber an Privatdokumenten ist vieles verloren gegangen, Briefe, Notizen, Tagebücher....... wenn es sie überhaupt gegeben hat.

Bis heute weiß ich sehr wenig darüber, wie die zwei Brüder und ihre Eltern gelebt haben. Vater Bram betrieb seine kleine Metzgerei an der Beltstrasse 69a, unweit des Stadtzentrums. Mutter Zelma kam aus einer Metzgers- und Viehhändlerfamilie in Denekamp. Der ältere Sohn, Maurits, ist laut Dokumention, wie zu erwarten war, auch Metzger geworden. Er hat wohl bei seinem Vater gelernt und ihm geholfen. Izaak jedoch, der jüngere Sohn, wurde Drucker in einer Textilfabrik. So jedenfalls war seine berufliche Tätigkeit in seinem Ausweis eingetragen. Wie er es geworden ist, wo er gelernt hat, was er genau gedruckt hat..... das alles ist noch Gegenstand meiner Recherche. So auch die Frage nach der Religiosität der Familie. Waren sie fromm? Nicht sehr wahrscheinlich. Hat man am Freitagabend Schabbes gemacht? Möglich. Hatte die Metzgerei am Samstag geöffnet? Bestimmt, so bezeugt es eine alte Dame, die überlebende Tochter eines verwandten Metzgers De Leeuw aus Enschede. Eine koschere Metzgerei betrieb Bram bestimmt nicht. Die Kundschaft waren meist nichtjüdische Fabrikarbeiter.

Und noch so viele weitere Fragen. Wie haben die Brüder sich zueinander verhalten? Verstanden sie sich gut, gab es Rivalitäten? Was haben sie in ihrer Freizeit gemacht? Sportverbände? Jüdische Vereine? Haben sie im 13. Lebensjahr – also 1931 und 1934 – bar mizwah gemacht? Vielleicht sogar in der majestätischen, neuen Synagoge, die 1928 in Enschede eröffnet worden war? Waren sie also Mitglied der Jüdischen Gemeinde, der Kehille? Hatten sie Mädchen, Freundinnen? Hatten sie sich vielleicht schon verlobt? Alles Fragen von denen es schwer ist hinzunehmen, dass es auf sie vielleicht nie eine Antwort geben wird.

Wie auch ihr Leben vor der Katastrophe war, feststeht, dass sie, alle Vier, am 31. Juli 1944 vom ´Judendurchgangslager´ Westerbork nach Theresienstadt deportiert wurden. Die Familie war noch zusammen. Zwei Monate später folgte der Transport nach Auschwitz. Dort wurden die Eltern am 8.Oktober1944 vergast und verbrannt. Die Brüder, da wahrscheinlich noch in guter körperlicher Verfassung, gehörten zwei Tage später zu einem Transport von 1500 jüdischen Männern zum Dachauer Außenlager Kaufering. Maurits, der ältere, bekam die Transportnummer 115654, Izaak Nummer 115653. Ist es Wunschdenken? In der schrecklichen Schlange sehe ich, wie der ältere Bruder sich hinter den jüngeren stellt, so dass er wenigstens sieht was diesem passiert.

Wie lange es Maurits noch gelang ein Auge auf Izaak zu halten, ist ungewiss. Maurits verbleibt bis zu seinem Tod am 8. Februar 1945 in Kaufering. Bei Izaak aber wird am 12.12.1944 eingetragen ´rückgeführt von AL´, ´Außenlager Landsberg/Lech´ und dort, in Landshut, stirbt er am 22. Januar 1945.

Der Transport von Auschwitz nach Kaufering brachte 1500 Männer aus ganz Europa zusammen in das Elend. Unter ihnen waren auch die zwei Brüder Hugo-Kurt (Bubi) und Ullrich (Ulli) Chotzen aus Berlin. Bubi war im März 1915, drei Jahre vor Maurits de Leeuw, geboren. Ulli war ein Jahr älter als Izaak. Wie Maurits und Izaak, hatten auch Bubi und Ulli Auschwitz über Theresienstadt erreicht. Anders als die Brüder aus Enschede, waren die Berliner Brüder verheiratet und verbrachten mit ihren Frauen längere Zeit im Getto Theresienstadt. Am 29. September 1944 mussten sie mit dem Transport ‚EI’ Theresienstadt verlassen. Ob Maurits und Isaak auch in diesem Transport waren, ist nicht sicher. Nach dem 29.9.44 gab es noch am 1. Oktober (‚Em’, 1500 Personen), 4. (‚En’, 1500) und 6. Oktober (‚Eo’, 1550) und spätere. Fest steht jedoch, dass Hugo-Kurt und Ullrich, Maurits und Izaak am 10. Oktober im selben Transport von Auschwitz nach Kaufering waren. Ullrich bekam die Nummer 115603 und Hugo-Kurt die Nummer 115623.

Wir wissen dies dank der Berliner Historikerin Barbara Schieb. Sie hat die tragische Geschichte der Familie Chotzen intensiv recherchiert und sehr einfühlsam in ihrem Buch Nachricht von Chotzen aufgeschrieben. Ihre Arbeit ermöglicht uns, einiges über die letzten grausamen Wochen von Izaak zu sagen. Sein Leidensweg in den Tod, im Judenlager Landshut/Isar, verlief parallel zu dem, den Bubi und Ullrich Chotzen gehen mussten. Maurits war in Kaufering zurückgeblieben. Die Umstände seines Leidens werden aber nicht viel anders gewesen sein.

Im Judenlager von Landshut – getrennt vom Lager der Organisation Todt – lebten (vegetierten ist ein besseres Wort) ca. 500 „vollkommen ausgemergelte Personen“ in Wellblechbaracken, so zitiert Barbara Schieb Zeugen des Lagers. Die Wände der Baracken waren „dünn wie Pappe, eine Art Hundehütten, durch die der Wind pfiff und in die die Kälte ungehindert Einlass fand.... Als Kleider hatten sie in der bitteren Kälte des Dezembers nur ihre dünnen Zebra-Drillichanzüge. „Diese Menschen waren kaum noch in der Lage zu stehen, todbleich....“ doch sie mussten arbeiten. „Es wurde ein Gleisanschluss an das Schienennetz der damaligen Reichsbahn erstellt, Straßen gebaut, das Gebiet planiert und Gebäude errichtet.“ „Teilweise erhielten sie nicht mal genug Wasser und durch die ständige Krautwassersuppe“ waren sie körperlich am Ende.

Ullrich Chotzen starb am 3. Januar, Izaak de Leeuw am 27. Januar 1945. Todesursache: 'Herzlähmung, allgemeine Körperschwäche'. „Jeden Tag in aller Frühe wurde die Absperrung geöffnet und heraus kam ein Leiterwagen voller Leichen.... Vorne zogen zwei Häftlinge den Wagen und hinten mussten noch vier Häftlinge schieben, um ihn überhaupt bewegen zu können. Die Toten wurden zum Achdorfer Friedhof gebracht, in dem sie in Massengräbern verscharrt wurden.“ Es ist anzunehmen, dass die Überreste von Izaak de Leeuw und Ullrich Chotzen im selben Massengrab liegen. Dieses Grab wurde in den 60-er Jahren zur KZ-Gedenkstätte Flossenbürg überführt.


Deutsche bearbeitung Magdalena Strugholz, Dortmund

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